marco als kind

Auf den Anderen zugehen

Wie in jedem Winter begegnen uns Menschen auf den Straße unserer Stadt bei denen wir im ersten Moment denken „Sie könnten Hilfe gebrauchen“. Verschlissene Kleidung, schlechte Schuhe, ungepflegtes Äußeres. Wir schauen Sie an und denken uns unseren Teil aber gehen zu oft weiter. In den meisten Fällen geschieht ein solches Zusammentreffen genauso so. Nachdem man vorbeigegangen ist überkommt einem das Gefühl von schlechtem Gewissen und der Gedanke „hätte ich doch was machen sollen?“. Aber einen Augenblick später haben andere Gedanken und eigene Sorgen uns wieder eingeholt und so zu unserem Glück „abgelenkt“.

Auch in unserer Gemeinde ist die Armut und der soziale Verfall zu spüren und wenn man die Augen aufmacht sieht man sie.

Dezember, mir begegnet genau so ein Mensch. Ein Mann mittleren Alters wo man zuerst denkt „warum gehst Du nicht Arbeiten, du siehst gesünder aus als ich und bist um Weiten Jünger“. Und einen Moment später ist dieser „Anfall“ schon vorbei. Wir haben Winter, es ist bitter Kalt, mein Bus fährt wie an jedem Tag fast pünktlich von der Bushaltestelle am Marktplatz ab. Und wie an jedem anderen Tag treffe ich diesen Mann wieder und immer mehr kommt mir der Gedanke „Was macht er hier so früh, wenn er nicht zur Arbeit muss“.

Eines Abends muss ich noch spät zur Bank, eine Überweisung tätigen, ohne vorher daran gedacht zu haben das er hier immer sitzt, treffe ich den jungen Mann wieder. Liegend im Vorraum zu den Automaten. Er hatte dort sein Nachtlager unterhalb der Überwachungskamera (damit er nicht entdeckt wird) bereits aufgeschlagen. Jetzt wusste ich warum er so früh auf der Parkbank saß. Die Angestellten der Bank hätten Ihn gesehen und es Ihm am Abend nicht mehr ermöglichen dort zu übernachten.

Nicht in jeder Situation ist es angebracht einen Menschen anzusprechen doch ich tat es. Das erste kurze Gespräch kam in dem Vorje zustande. Dort beschwichtigte ich Ihn nur das ich keine Meldung machen würde und er in Ruhe schlafen könne. Am nächsten Morgen traf ich Ihn auf der Parkbank neben der Bushaltestelle und sprach Ihn an. Seine Geschichte konnte ich kaum Glauben. Er war nicht Obdachlos, er hatte eine kleine Einzimmerwohnung in einer Sozialen Unterkunft. Doch wenn sein Mitbewohner Abends angetrunken nach Hause kam musste er dort raus. Wenn er blieb wurde er verprügelt, manchmal, so sagte er kam er nicht rechtzeitig weg und bezog schlimme Prügel. Oft kam die Polizei und nahm den Schläger mit, doch hatte er nur den einen Abend Ruhe vor ihm, am nächsten Tag ging es wieder von vorne los.

Ich merkte seine Wut und auch die Angst davor dieser Wut freien Lauf zu lassen. Wie ich ihn einschätzte hätte er körperlich dem Angreifer genug entgegenzusetzen und könnte jeden Kampf gewinnen, doch er ging ihm aus dem Weg und flüchtete freiwillig ins Abseits. Doch im Laufe unserer Unterhaltung gab es auch einen Funken Hoffnung. Er müsse nicht mehr lange aushalten, seinem Mitbewohner wurde gekündigt und er käme nun in ein anderes Wohnheim. Mir ging seine Geschichte den ganzen Tag nicht mehr aus dem Kopf und ich überlegte wie ich ihm helfen könnte. Ein Quartier wollte er nicht annehmen: „ich bin nicht Obdachlos, nein Danke“. Für die kalten Tag hatte er sich mit Alkohol versorgt und wenn man an die Winternächte denkt ist das keinem zu verübeln.

Ab dem nächsten Tag stand ich nur unwesentlich früher als sonst auf und brachte ihm heißen Kaffee in den Vorraum der Bank und genügend frische Brötchen um über den Tag zu kommen. Ohne Worte zu wechseln außer „Danke“. Ich war beruhigt wenn ich sah das er die nächste Winternacht überstanden hatte. Nach ein paar Tagen sagte er mir Freude strahlend „ER ist weg, ab Heute Nacht kann ich wieder Zuhause schlafen“. Am darauffolgenden Tag brachte ich die Brötchen Abends wieder mit nach Hause, er schlief nicht mehr in der Bank und trieb sich bei Eiseskälte auch nicht mehr auf der Straße herum.

Nach einigen Wochen traf ich ihn zufällig in der Stadt. Er sprach mich gleich an und wir unterhielten uns wie es ihm in der letzten Zeit ergangen war. Freude konnte man heraushören. Einen Teilzeitjob hat er gefunden. Mit seinem neuen Mitbewohner ist alles in bester Ordnung. Man spürte Hoffnung und sein Glück. Wir waren schon lange beim Du angekommen, auch wenn wir uns am Anfang etwas unpersönlich gaben. Zum Abschluss fragte er mich nur „Warum hast Du das gemacht, Du kennst mich doch gar nicht?“

Ich lächelte nur und dachte mir „ich habe dich kennengelernt, du hast mir von Dir erzählt und ich wurde, wenn auch nur ein kleiner, ein Begleiter deines Weges“ und sagte „Du hast jemanden gebraucht.“.

Danach trafen wir uns nie wieder.

An dieser Bushaltestelle stehen täglich etliche Menschen und doch haben wir alle ihn nicht gesehen, nicht sehen wollen. Eine zusätzliche Belastung in unserem so verplanten Leben will keiner freiwillig eingehen. Wir alle meinen das sich andere darum kümmern können. Es gibt genug staatliche Hilfe und soziale Einrichtungen die wir bereits finanzieren. Aber ohne zu Fragen, werden wir nie erfahren warum ein Mensch diese Hilfe nicht annimmt oder sich so verhält wie dieser junge Mann. Ohne diese Menschen zu sehen bekommen wir auch nicht die Möglichkeit auf sie zuzugehen und zu fragen.

Was mir wirklich schwer auf dem Magen schlug und in mir hochkochte waren die Blicke der Anderen im Bus nachdem wir uns täglich dort trafen. Was hat der mit dem zu tun, ist das auch so einer?

Mir war es egal, sie hätten ja fragen können.

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